RC 025-71-01
Carnap-Tagebuch 1911
Mainb. Adr.:
Rektor Kottenhof [?], Hombruch, Post Barop, bei Dortmund
S. Fischer, Kunstmaler, Weimar, Kurtos 3 III
(Direktor Salomon: Nädes, Station Floda, Godenburg [?]
Otto Schmied, Nürnberg, Camerariusstr. 8
Frau Antonia Kettels, Altona-Elbe, Övelgünne 30
Tilly, 1911
Tilly an Hedwig.
Villa Lykan. Uppsala. den 20. Oktober 1911
Liebes Rohden-Kind!
“Tack så mycket för sist”, weißt Du, was das heißt? Wir sagens,
wenn wir bei jemand waren, und es war nett. Dein Bild steht hier auf
meinem Schreibtisch und guckt mich an und darum kommt es mir vor, als ob
ich mit Dir reden würde. Das Bild habe ich sehr gern. Es ist einfach
famos, wieder zu Hause zu sein. Alles sind gesund und guter Dinge, bei
Tisch denke ich oft an unsere Helferinnen-Mahlzeiten, die sind nicht viel
unruhiger als hier. Zwar die Manieren sind besser hier, aber die
Unterhaltung ist ebenso lebhaft. Ich glaube nach Mainberg würde es mir
sehr langweilig vorkommen, wenn alles still dasäss [?] und nur den Mund
auftut, wenn es gefragt wird. Das ist sonst ja das Ideal bei vielen
Erziehern. Wir haben schon ziemlich viel Tennis gespielt, besonders
Sonntags, dann gehts schon vor 11 Uhr los denn da haben wir ja alle frei.
Ich habe nicht so sehr viele Vorlesungen, meistens sitze ich in meinem
Zimmer und arbeite. Es macht mir furchtbaren Spaß wieder zu lesen und zu
studieren, und so arg viel habe ich auch nicht während des Sommer
vergessen. Jetzt im Anfang gehen mir die vielen Sprachen ein bißchen bunt
durcheinander aber das ist eigentlich nur lächerlich, besonders für die
Zuhörer. Mein Professor war ganz nett zu mir und gab mir gute
Ratschläge, aber bis Weihnachten glaubt er nicht, daß ich fertig werden
kann. Schade, denn in Finnland werde ich wohl nicht viel lernen. Uppsala
kommt mir so nerven-beruhigend vor nach Berlin, und doch war es fein da.
Jetzt bin ich bald eine Woche zuhause aber bin noch nicht ganz
ausgeschlafen. Manchmal vermisse ich die Arbeit in Mainberg sehr, Du nicht
auch? Habe so eine wahnsinnige Lust mal die Hölle runter zu klatschen
oder meinen “Adler” zu bohnern. Statt dessen will ich dreimal
wöchentlich tüchtig turnen in unserer schönen Turnhalle und nachher im
Bassin [?] schwimmen. Da [..] tiefer als im Main.
--Wie geht’s denn Euch allen? Laß’ bald was von Dir hören, es würde
mich so freuen. Bummelt Ihr immer noch so viel wie als ich da war?
Herzliche Grüße an “Deine Familie”
von Deiner Tilly.
Otto an Hedwig. 18.X.11.
Liebes Rohden-Kind, als ich heute durch den Garten ging, sah ich die
letzten von den schönen gelben Blumen. Ich dachte daran, wie nett Dein
Kränzlein immer war, nun sollst Du sie auch haben als letzten Gruß vom
Schloß.
Frau von Gäller läßt Dir herzlich danken für die Fotos. Frau Krause
ist heute abgereist. Ich werde Freitag oder Samstag fahren. Es ist
wundervoll hier, die Ruhe im Schloß und die Sonne; ich wohne im
Rokoko-Zimmer. Den letzten Gruß aus Mainberg in diesem Jahr und auf ein
frohes Wiedersehen im nächsten Jahr!
Dein Otto.
3.XI.11.
Guten Morgen Tilly! Du mußt nämlich wissen, ich stehe unten im Hof und
höre plötzlich was die Hölle runterklatschen. Und wie ich mich umgucke,
da bist Du das. Wollen wir etwas zusammen spazierengehen? Nein? Du hast
jetzt keine Zeit? Aber Montag hast Du freien Tag? So, da werde ich auch
Zeit haben, denk’ ich. Dann wollen wir jetzt mal jeder an seine Arbeit
gehen.
6.XI.11.
Also jetzt wollen wir mal was in den Wald laufen. Ich will Dir dabei von
unserer Vogesen-Fahrt erzählen. Wenn Du aber heute keine Lust hast,
können wir ja ein andermal gehen. Mit anderen Worten: Du kannst diese
Seiten im Brief überschlagen, wenns Dich jetzt nicht interessiert,
vielleicht liest Du’s dann ein andermal.
Vor einer Woche haben wir die Fahrt gemacht; 5 Tage, von denen Frie[drich]
leider nur einen mitmachen konnte, wegen der Anstrengung und des schlechten
Wetters. Das fing nämlich schon gleich bei Beginn der Wanderung an. Von
Freiburg fährt man hier quer durch die Rheinebene und ist in ein paar
Stunden mitten in den Vogesen, deren südlicher Teil wir sehen wollten.
Während des ersten Tag Dann gingen wir F zuerst auf die
deutsch-französische Grenze los, die dort gerade auf dem höchsten
Gebirgskamm entlang läuft, und dann immer über den Kamm nach Süden, mit
dem linken Bein im Vaterland, mit dem rechten im Außland. Obwohl meist
Regen und Nebel war, haben wir doch sehr viel Freude gehabt. Die Berge da
sind ihrer Höhe und auch ihrer Gestalt nach großartiger, als im deutschen
Mittelgebirge, das Du ja in an verschiedenen Stellen gesehen hast. Und
dann trafen wir oft so herrlichen bunten Herbstwald. Manchmal hellte sich
auch das Wetter für kurze Zeit auf, und wir sahen die Rheinebene unten
liegen und dahinter die Shilouette unseres Schwarzwaldes. Ein paar Mal war
auch der Blick in die Alpen frei, und wir sahen eine Reihe von hohen
Gipfeln,
[Randbemerkung auf unterem Seitenrand:] F das heißt, noch 4 andere
Freischärer
bis in die Zentralalpen hinaus. Es war so fein, daß wir uns vorgenommen
haben, im Winter bei schönem klarem Schneewetter wieder hinzugehen, um Ski
zu laufen. – Die Häuser stehen da oben recht spärlich, so daß war
[sic] gegen 4 Uhr immer schon anfangen mußten, Quartier zu suchen, da es
nun um 5 dunkel wurde. So hatten wir nur sehr wenig Zeit zum wandern.
Deshalb machten wir keine Mittagspausen, sondern aßen morgens reichlich
warm und reichlich. Leute gibts da oben noch weniger als Häuser. Einmal
haben wir 2 Tage und Nächte lang keinen Menschen gesehen. Wir
übernachteten in den “Fermen”, das sind Gehöfte, die aus großem
Kuhstall mit Heuboden darüber und einigen kleinen Wohnräumen bestehen.
Die hoch gelegenen Fermen werden nämlich im Herbst von Mensch und Vieh
verlassen. Die Wohnräume waren manchmal auf, oder es gelang uns, durch
ein Fenster einzudringen; sonst mußten wir im Heuboden übernachten. Wenn
wir dann in der einige Male hatten Gewöhnlich fanden wir Öfen dort und
eine Menge Brennholz. Wenn wir dann in der Abenddämmerung naß und
hungrig ankamen, hingen wir unsere nassen Sachen um den Ofen. Wer Lust
hatte, nahm draussen noch ein kurzes Luftbad draussen. Dann holten wir aus
unseren Rucksäcken trockene Sachen hervor und wärmten uns. Ferner hatten
wir Sprituskocher bei uns und alle möglichen Sachen, um den Hunger zu
stillen. Dann Das meiste Glück im Quartier finden haben wir nach
unserem schlimmsten Tag gehabt. Die Berge und Wälder sahen zwar gerade an
dem Tag ganz herrlich aus. Aber bei dem Regen und Sturm hatten wir schon
nach ein paar Stunden genug und kehrten wieder waren froh, ein gutes Obdach
zu finden. Denk Dir nur, einer von den Studenten, er ist etwas älter und
schon verheiratet, hatte statt Mantel oder so etwas einen Schirm
mitgenommen. Doch an diesem Tage schnallte er ihn, bevor wir überhaupt
ausrückten, auf den Rucksack. Wie naß er geworden ist, kannst Du Dir
vorstellen. Nachher diktierte er mir ins Freischar-“Fahrtenbuch” als
Wetterangabe für den Tag: Starker Regen und Belscher [?] Orkan, es fehlen
die Worte.” In der letzten Nacht bekam er auch etwas Schüttelfrost.
Jetzt liegt der arme Kerl hier in der Klinik;
fühlte sich aber tagsüber immer äußerst wohl. Influenza,
Nierengeschichte. In ein paar Tagen will er aber wieder aufstehen. Was
wir an dem Tag für gewaltigen Spaß hatten, als wir da eine herrliche Bude
fanden, mußt Du Dir mal ausmalen. Wir fanden da einen großen Kamin, noch
viel größer als in Mainberg, in dem wir schließlich gewaltige
Baumklötze zum Brennen kriegten. Da hausten wir dann während der
Dämmerung und das lange abends furchtbar gemütlich zusammen. Da saßen
wir um das Feuer herum und schwätzten oder auch nicht; dann sangen wir mal
was und guter Gitarrenspieler zupfte dazu (die Zupfgeige hatte das Wetter
bewundernswert statthaft vertragen). Dazu schlemmten wir in kulinarischen
Hochgenüssen, als da sind: Schokoladenreis oder Gries mit Aprikosen, dann
Butterbrote mit Tee oder Kakao. Währenddessen sorgten wir immer dafür,
daß alle unsere Sachen der Reihe nach zum Trocknen kamen; dies gelang uns
merkwürdigerweise so gut, daß in die meisten Sachen nicht einmal Löcher
hinein brannten (mit Ausnahme von 2 Mänteln und einem Hemd, das plötzlich
in Flammen aufging, aber noch in zusammenhänger Gestalt gerettet wurde).
Dazu lasen wir uns auch mal was vor; dann lernten wir von uns gegenseitig
neue Lieder usw. Kurz wir lebten da oben wie die Fürsten und kultivierten
uns geradezu zu Genußmenschen. Am anderen Tage mußten wir leider zu Tale
steigen, da uns die Lebensmittel ausgingen. Da sahen wir dann wieder
Menschen, beeilten uns aber, vor Abend wieder in die unbewohnten Gegenden
hinauf zu kommen, was uns auch noch gerade gelang. Du kannst Dir denken,
wie wir über jede Kuh schimpften, die uns die Nähe von bewohnten Fermen
ankündigte und uns zwang, immer höher hinauf zu steigen.
Als es schon dunkel war, hatten wir dann kurze Zeit klaren Ausblick und
sahen unten in der Rheinebene die Lichter von mehreren Ortschaften
schimmern. Unser stiller Wunsch, auch noch auf den großen Belchen zu
kommen, ist infolge des schlechten Wetters nicht in Erfüllung gegangen.
Vielleicht stehen wir nächstens auf Skiern oben und sehen die Berge, auf
den wir jetzt waren, und den Kamm, auf dem wir entlang gelaufen sind, und
Rheinebene, Schwarzwald und Alpen! Ich kanns schon kaum erwarten, daß der
Schnee endlich kommt. Und es ist doch erst Anfang November.
Abends als wir hier ankamen, schleppte uns Frank, so heißt der
Verheiratete, gleich alle mit, wie wir waren, in seine Wohnung. Unterwegs
holten wir noch Frie[drich] ab und hatten dann noch einen furchtbar netten
Abend. Frau Frank ist ein feiner Mensch. Ich mag sie sehr gerne. Wir
erleichterten ihr unsere Bewirtung duch unsere übergebliebenen
“Fressalien” und eine Menge unterwegs gefundener Pilze. Während
Franks Abweseneheit hatten seine Frau und Frie[drich] sich gegenseitig in
ihrer Einsamkeit getröstet. Er hatte ihr viel von Mainberg und Müller
erzählt. Ich glaube sie wird mal hingehen. Sie passt sehr gut dazu.
Am anderen Morgen fing natürlich das schönste Wetter an. Aber da
wir uns in unserer Laune so unabhängig vom Wetter gezeigt hatten, lachten
wir es jetzt, wo es uns höhnen wollte, aus.
Jetzt hast Du gesehehn, was für famose Wanderfahrten wir
Freischärer unternehmen. – Holla, Tilly, es ist gleich ½1. Wir wollen
mal schleunigst hier den Berg runter rennen, damit uns ja nicht die Suppe
entgeht!
11. XI. 11
Nun habe ich die endlose Seite vollgeschrieben von der Fahrt und nun stehn
sie da. Anstatt zu überlegen, was Dich wohl interessieren könnte, habe
ich einfach hergenommen, “wes mir das Herz voll war, nämlich die schöne
Fahrt, und habe immer drauflos geschrieben, weil ich noch in der
Ehre[?]sache Freude dran habe. An sich ist Dir das alles ja wohl schnuppe,
wies auf der Fahrt hergangen ist und was für Wetter war usw. Aber, magst
es vielleicht doch lesen, weil ich bei der ganzen Geschichte solche Freude
gehabt habe, nicht wahr? Ich schließe das einfach von mir. Ich würde
mich furchtbar freuen, wenn Du mir schriebst, was Du alles tust usw., eben
weil Du das erlebt hast, wenns auch an sich keine welterschütternden
Ereignisse sind.
Diese Woche haben wir von Frau Kettels einen furchtbar netten Brief
bekommen. “Wir” ist eigentlich gelogen, Frie[drich] hat ihn bekommen.
Aber das tut nichts. Außerdem steht drin, daß sie mir auch bald einen
schreiben wird. Da freue ich mich schon im voraus darauf.
13. XI. 11
Freitag und Samstag haben wir endlich mal wieder gute Musik zu hören
bekommen. Freitag war nämlich ein Symphoniekonzert im Theater. Wir
saßen [unleserlich], da wir uns zu spät Karten geholt hatten, ganz oben
auf der Gallerie, aber die Akustik ist da sehr gut. Den ganzen Abend
Beethoven. Ich hörte unsere [?] Leute sagen, das wäre einen zu viel.
Aber ich liebe solch einen Einheitsabend. Von manchen anderen Komponisten
würde es mir allerdings auch zu viel werden. Man spielte auch die 7.
Symphonie, aus der ich besonders mittleren Satz, den sogenannten
Trauermarsch, gerne habe, mit dem herrlichen Rythmus:
der, wenn die Melodie sich emporschwingt, immer noch von den unteren
Stimmen angegeben wird und dem Ganzen so etwas Schweres-Dumpfes gibt.
Unter anderem spielte dann ein Geiger noch die Romanze in G-dur. Ich
kannte sie, weil ich sie schon mehrmals von Heinz gehört hatte. Ich
glaube, er hat sie auch mal im Helferinnenzimmer gespielt. Sie fängt etwa
an:
Samstagabend haben wir dann Burmester gehört. Er war früher in
Helsingborg, ist aber Deutscher und wohl der bester Geiger, den wir haben.
Er spielte unter anderem Beethoven Kreutzer-Sonate. Er war so vollständig
ohne jede Schauspielerei und Pose, wie man es selten sieht. Wir saßen auf
dem Balkon, wo wir ihn ganz nah sehen konnten, weil Frie[drich] seine
Hände, besonders die rechte, beobachten wollte. Da konnte ich sehen, daß
auch sein Gesicht ganz kallt blieb. Wenn man ihn ansah, schien es fast,
als stände er der Musik gleichgültig gegenüber. Nur wenn man nicht
hinsah, wurde man ganz ergriffen und hatte unbedingt den Eindruck, als
werde in diesem Moment Mom ein Kunstwerk geschaffen. Ich glaube man muß
annehmen, daß die eigentliche schöpferische Tätigkeit (ich meine die
Burmesters, von der Beethovens spreche ich natürlich nicht) lange vorher
geleistet worden ist, nämlich während[?] der Geiger sich in das Stück
einarbeitete und es übte. Jetzt bei seinem Spiel leistet er quasi nur
eine (natürlich im höchsten Sinne) automatische Reproduktion, ist aber
nicht mehr der “schaffende Künstler”. Es ist beinahe so, wie wenn ein
Maler sein Gemälde, in das er sein Tiefstes hineingelegt hat, jetzt, lange
nachdem er es fertig gestellt hat, mit kaltem Lächeln den Beschauern
hinhält.
Zähringerstr. 50; 17. XI. 11
Wir sind nämlich gestern umgezogen und wohnen jetzt 3 Treppen hoch,
was uns gestern abend sehr zu statten [?] kam. Da find nämlich
plötzlich, als ich schon im Bett lag, ein Erdbeben an, und unsere Etage
wackelte dermaßen, daß ich dachte, es könnte mir die Zimmerdecke auf die
Nase fallen. Daraus, daß ich jetzt hier schreibe, kannst Du aber ersehen,
daß sie es nicht getan hat. –
Ob Du Dich wundern wirst, daß ich Dir einen Brief schreibe? Und
gleich noch eine ellenlange Epistel.
Hast Du den Aufsatz von Müller im letzten Heft gelesen? Ich weiß
nicht mehr, wie er heißt; er handelt so ungefähr von dem “Schwamm
darüber!” Ich glaube, es stand der Spruch darüber: Wer die Hand an den
Pflug legt und sieht zurück…
Nun mußt Du wissen, daß es auf die Dauer nicht ausbleiben kann, daß
Dein Ere[?]bild mir zur Salzsäule erstarrt. Und wer mag denn gerne mit
toten Leichen Umgang haben? Darum ziehe ich es vor, mich alle paar Tage
mit der lebendigen Tilly zu unterhalten, wenn ich gerade etwas freie Zeit
habe. Denn Du darfst nicht glauben, daß ich die wichtigen Stunden dazu
nehme. Sondern während der Arbeitszeit freue ich mich manchmal, wenn ich
daran denke, daß ich Dir nachher plötzlich begegnen kann, wenn ich will,
und ein paar Minuten mit Dir gehen, um Dir was zu erzählen. Oder wenn ich
von der Universität nach Hause gehe, denke ich, ob Du jetzt wohl schon auf
meiner Bude sitzt, um mich zu besuchen. Und manchmal ist es dann so. Und
dann setz ich mich an den Schreibtisch und erzähle darauf los. Und Du
sitzt hinter mir am Fenster, wo man in rot und gelben Schwarzwaldwälder
hinaufsieht, und musst wohl alles hören. Denn manchmal unterbrichst Du
mich auch, und ich muß eine Pause im Schreiben machen und hören, was Du
sagst.
18. XI. 11.
Heute höre ich, wie Du mir erzählst, daß Du vielleicht nicht
fertig wirst bis Weihnachten mit Deinen Studien. Gewiss wäre das schade,
und ich würde mich ja sehr freuen, wenn Du noch in diesem Jahre das Ziel
ereichtest. Aber so wichtig ist das doch nicht. Ich fürchte fast, daß
Du jetzt zu viel arbeitest, um es doch noch zu erzwingen. Ich würde es
noch mehr, als daß Du das Ziel nicht ereichst, bedauern, wenn Du jetzt
immer hinter Deinem Schreibtisch säßt, bis Du ganz blaß aussehest, statt
in den Schnee hinaus zu laufen, den ihr jetzt da wohl schon habt. Das
wäre doch schrecklich! Darum mußt Du auch nicht schimpfen, wenn ich Dir
“gute Ratschläge” gebe, als ob ich schon doppelt so alt wäre, als ich
bin.
Denk Dir nur, bei dem Erdbeben ist Frie[drich], wie er mir erzählt,
aus dem Bett gefallen. In Freiburg sind nur einige Ziegel von den Dächern
gefallen und eine Mauer eingestürzt. Das Münster ist zum Glück
unbeschädigt, obwohl die Spitze furchtbar geschwankt haben soll. Man hat
so ein ganz doll hilfloses Gefühl, wenn man so samt Bett, Zimmer und Haus
gerüttelt wird und kann sich gar nicht dagegen wehren. Jetzt schließ ich
schnell, weil wir heute und morgen eine 2-tägige Wanderung in den
Schwarzwald machen. Gleich gehts los. Lebe wohl!
Montag, 20.XI.11.
Das war mal wieder fein da draußen. Samstagnachmittag so warm und
schöner Sonnenschein, daß wir oben im Titisee gebadet haben (aber nur
ganz kurz!) und gestern gingen wir oben im Schnee, und es schneite noch,
und wir bekamen die Sonne fast gar nicht zu sehen. Nächsten Sonntag gehen
wir hoffentlich mit Skiern auf den Feldberg. Samstagabend kehrten wir in
einem kleinen Gasthause ein und saßen nach dem Essen um den schönen
Kachelofen und lasen uns aus dem “Parzival” vor, den einer mitgenommen
hatten. Du kennst vielleicht diesen mittelhochdeutschen Ethos, das Wolfram
von Eschenbach aus dem Sagenkreise von König Arthurs Tafelrunde und den
Gralsagen gedichtet hat. Wir wollten eigentlich früh zu Bett gehen, aber
wir hatten solche Freude daran, daß es schließlich fast 12 Uhr war, als
wir aufhörten. Leider können wirs nicht im Original lesen, da das zu
langsam gehen würde, aber wir haben eine sehr gute neue deutsche
Nachdichtung, die wir noch öfter mitnehmen wollen, aenn wir zwei
Tage-Ausflüge machen.
Durch so eine Wanderung kommt man sich viel näher, als wenn man
sonst eine Woche zusammen lebt, wenn wir Freischärer auch mittags immer
zusammen essen. Auf der Wanderung hat man eben alle Anstrengungen und alle
Genüsse, alles was einem unangenehm ist [2 Seiten überschlagen!]
Tilly an Friedrich. (T7)
Villa Lykan. Uppsala, den 16. November 1911.
Lieber Friedrich! Wie nett von Dir, mir das feine Buch zu schicken!
Schönen Dank dafür, ich habe mich sehr darüber gefreut. Über Deinen
Brief auch, ich würde froh sein wenn Du hin und wieder mir schreiben
würdest, obwohl Du so viel zu tun hast. Wie dumm von Dir, mir nicht
früher zu sagen, daß es Dein Geburtstag war, so nachträglich Glück
wünschen ist wahrhaftig kein Spaß und darum tu ichs auch nicht. Hast Du
etwas Nettes vorgehabt an dem Tage? Ich muß die Utti [?] erst fragen, ob
es unumgänglich nötig ist, Respekt vor Dir zu haben, ich glaubs nicht.
Vorläufig ist sie mir noch einen Brief schuldig und ich werde mich hüten,
vorher zu schreiben. Hab so schon genug zu tun. Wenn ich nur an meine
nächste Französich-Arbeit denke, werde ich ganz melancholisch. Zwar
sagte er voriges Mal, es sei ganz gutes Französisch, was ich da zum Besten
gab, aber es waren 7-8 grobe Fehler darin. Möchte wissen, ob Dein
Schwedisch [?] ebenso ist.
Eigentlich möchte ich eine Unmasse Fragen stellen, was Ihr vorhabt,
wie es in der Freischar zugeht usw., aber ich weiß selbst wie wild ich
werde wenn ich so einen Brief kriege, wo nix drin steht außer Fragen.
Also erzähle ich lieber, was wir hier zu Hause treiben.
Wir spielen viel Tennis, es ist das Einzige, was man bei diesem
Wetter machen kann und es ist so eine famose Erholung. Mama hat mir einen
neuen, sehr guten Schläger geschenkt, da geht’s nochmal so gut zum
Spielen. Und Turnen können wir dreimal in der Woche, in der großen
schönen Universitätshalle.
Es ist jetzt bestimmt, daß wir zu Weihnachten nach Finland fahren.
Ich freue mich sehr darauf: und eine Woche werden wir dann unsere
Verwandten in Petersburg besuchen, auf die Weise feiern wir zweimal Heilig
Abend, denn in Russland sind sie ja sehr zurück, sogar in der Zeit. –
Mein alter Großvater ist vor einer Woche gestorben. Er war so ein
famoser, tüchtiger Deutscher, mit seinen 73 Jahren hat er bis zuletzt
gearbeitet. Wir beide konnten stundenlang miteinander von Deutschland
reden. –
Zu guter Letzt kann ich Dir sagen, daß ich Dein Buchx) schon zum
größten Teil gelesen habe. Es ist fein, da hast Du recht.
Grüße an den Rudi. Einen schönen Gruß sendet Dir Tilly
Neovins.
x) Ich glaube, es war “Faust I”, Pantheon-Ausgabe
21 X. 12
oder worüber man sich freut, gemeinsam. Es ist so furchtbar schade, daß
Frie[drich] nicht mitkam. Aber wir haben zum Glück noch wöchentlich noch
mehrere Abende, die wir Freischärer gemeinsam zubringen.
21. XI.11.
Gestern hörte ich, daß hier ein Medizinprofessor am Morgen nach dem
Erdbeben zu einem Kollegen gesagt hat: “Seien sie froh, daß sie nicht
verheiratet sind; ich habe gestern die halbe Nacht mit meiner Frau vor dem
Hause spazierengehen müssen, weil sie nicht wieder hinein wollte.”
Sag, wenn alle Frauen so ängstlich sind, werde ich keine heiraten, wenn
sie auch noch so schönen Apfelstrudel backen kann. –
In der Freischar lesen wir jetzt an einem Abend in jeder Woche
Herders “Reisejournal”, das er auf seiner Fahrt von Riga nach Paris
(glaube ich) geschrieben hat. In Riga war er Pfarrer, Lehrer und ich weiß
nicht was gewesen. Und nun sitzt der da auf dem Schiff, ist froh, daß er
all den Krempel hinter sich gelassen hat, die ganze gewohnte Umgebung,
Eschen [?], Bücher usw. und macht sich recht ordentlich Luft im Anblick
des großen Himmels und der weiten Ostsee (Deiner Ostsee!). Man merkt es
dem Buch auch an, daß es nicht am Schreibtisch entstanden ist, es weht so
eine staubfreie Luft darin. Schon dem Stil merkt man es an, in welcher
Stimmung Herder war, daß er sich den Teufel darum scherte, ob seine langen
Sätze auch immer syntaktisch richtig gebaut waren. Und dann wirft er
großzügige Ausblicke auf die Kultur und Wissenschaft usw., was man da
nicht alles noch würde entdecken und leisten könne. Es ist fabelhaft,
was Herder damals schon alles in seiner Fantasie vorausschauend geahnt hat.
– Ich freue mich schon wieder auf nächsten Freitag, wo wir weiter lesen
und uns darüber unterhalten werden.
Dienstagabend, 21.XI.11
Heute Abend haben wir in der Freischar einen “Wissenschaftsabend”.
Aber vorher habe ich gerade noch etwas Zeit, um Dir zu erzählen, was das
ist. Zum Unterschiede von dem Leseabend Freitags, wo wir ganz unter uns
sind und irgendwelche Werke bedeutender Männer im Zusammenhang durchlesen
und uns gegenseitig zum Verständnis helfen, nachdem schon vor dem Abend
jeder den betreffenden Abschnitt möglichst schon für sich durchgelesen
hat, – laden wir zu dem Wissenschaftsabend einige Gäste ein, aber
möglichst wenige, und meist nur solche Leute, mit denen wir uns schon gut
verstehen, auch Damen. Solch ein Abend ist heute. Eigentlich wollten wir
einen im Anschluß an einen Abendspaziergang in einem Hause draußen im
Walde machen, aber es regnet leider, und da nehmen wir Rücksicht auf die
Gäste. An solch einem Dienstagabend strengen wir unsern Geist nicht
sonderlich an, sondern sind nur gemütlich beisammen. Einer von uns sorgt
dafür, daß außer dem Plaudern auch noch sonst Stoff vorhanden ist. Er
sucht z.B. etwas aus, was er vorlesen will und passende Lieder, die wir
singen wollen, usw; neulich wollte ich auch dabei draußen die Tänze
machen, bei Vollmond; doch sagten leider fast alle Damen ab, da wir zu
spät eingeladen hatten. Heute wird einer Andersens Märchen vorlesen, und
vorhin bat er mich noch, Gösta Berling mitzubringen, damit er was in
Reserve habe.
Außer diesen Abenden turnen wir noch zweimal in der Woche je 1½
Stunde. Es ist schändlich, daß die reiche Stadt Freiburg keine
akademische Turnhalle hat. Aber man hat uns die sehr schöne Turnhalle
eines Gymnasiums für die 2 Nachmittage überlassen. Ich habe sehr große
Freude am Turnen, obwohl ich fast der schlechteste Turner bin von den
Sechsen, die mitmachen. Ich habe ja fast 2 Jahre nicht mehr geturnt und
bin deshalb sehr ungeschickt, und die Arm- und Brustmuskeln sind sehr
schwach geworden. Umso größere Freude habe ich an den Fortschritten, die
ich in der kurzen Zeit schon gemacht habe. Da wir nur 6 sind, so lernt man
ordentlich was, besonders da ein Paar gute Turner dabei sind.—
Nun kann ich Dir doch nicht verschweigen, daß ich gestern neidisch auf
Frie[drich] war. Da kam nämlich Dein Brief. Daß ich meinen guten
“ollen Friederich” nochmal neidisch ansehen könnte, hätte ich nicht
gedacht. Zwar überwog doch die Freude, etwas von Dir zu hören, und die
Freude an Friedrichs Freude, aber sie war doch nicht ganz rein; zu dumm,
nicht wahr? Und ich habe Dir doch noch gar nicht geschrieben. Und wenn Du
diesen Brief bekommen hast, so hoffe ich wirklich auf einen Brief von Dir.
Jetzt habe ich genug gequatscht und muß schließen. Ich muß
nämlich nach Frau Frank in der Klinik abholen, wo ihr Mann leider immer
noch liegt. Ich habe ihn heute besucht; da war er zum Glück wieder ganz
heiter und will noch diese Woche nach Hause. Frau Frank geht natürlich
mit zu unserem Abend.
22. XI. 11.
Es ist doch schade, daß der gute Ff da noch in seiner “Bremer
Gesellschaft” ist, aus der er ja austreten wollte, obwohl er zum 1.
Vorsitzenden gewählt war. Wenn seine Hoffnungen berechtigt wären, so
wäre es ja gut. Er hat nämlich den Vorsitz niedergelegt und sich zum
inaktiven Mitglied machen lassen, und hofft so noch indirekt auf den
Betrieb einen heilsamen Einfluß ausüben zu können. So sind wir dann nur
selten mal zusammen. Ff ist sehr begabt und gewandt, aber ich habe immer
den Eindruck, als kommen seine Fähigkeiten in der der [sic] B.G. nicht
richtig zur Geltung, besonders wenn er Inaktiver ist. An der Freischar
stößt ihn, glaube ich, ein wenig die zu geringe Achtung der äußeren
konventionellen Formen ab, die ihm infolge seiner Herkunft und des
Einflußes der sehr vornehmen B.G. sehr wertvoll erscheinen. Doch hat er
soviel Interesse an der Freischar, daß er uns einen geheimen Monatsbeitrag
von 20 M angeboten hat. Wir können zwar für Miete von Lokal und
Turnhalle, für ein größeres Winterfest und die Anlage einer Bücherei
ganz gut Geld gebrauchen, haben aber abgelehnt, da wir Eschen [?] und nicht
Geld brauchen, um eine Reform des Studentenlebens durchzuführen, und um
unserer Unabhängigkeit willen. So wird er mit der Freischar wohl nur
wenig in Berührung kommen, und da im Winter ja die Abende so kolossal
besetzt sind, mit uns beiden persönlich wohl auch nicht so oft, wie wir
möchten. Doch treffe ich ihn öfter kurz zwischen den Vorlesungen.
23.XI.
Weißt Du noch, was Du kurz vor unserem Abschied zu mir sagtest? Ich soll
nett zu Ff sein. Dasselbe möchte ich Dir jetzt auch sagen, wenn Du auch
2000 km von ihm weg bist. Ich kann mir nicht denken, daß ein paar
Samenkörner, die Du ausstreust, unfruchtbar bleiben können. –
Als ich hier gar keinen Schweden fand, habe ich angefangen, in einem
Selbstunterrichtskurs zu arbeiten, aber die Aussprache kann man vom Papier
ja doch nicht lernen. Endlich habe ich jetzt zu meiner großen Freude eine
nette junge Schweding gefunden, die zwar nicht Sprach-, sondern
Turnlehrerin ist, uns (das heißt noch einem Bekannten von mir) aber doch
Stunden geben will. Übermorgen geht’s los. Unterdessen kann ich aber
wenigstens schon einen Brief lesen, wenn auch mit Anstrengung und Lexikon.
Aber wenn ich Deinen Brief so ganz fein verstehen soll, so schreibe lieber
doch noch deutsch. Aber willst Du nicht mal Deine Schwester fragen, ob sie
mir nicht auch noch einen netten schwedischen Brief schreiben wollte, wie
Dir nach Mainberg? Damals habe ich leider kein Wort davon verstehen
können, aber jetzt würde ich mich sehr darüber
[2 Seiten überschlagen!]
6. XI. 11.
Guten Tag Lisi! Das ist fein, daß ich Dich gerade treffe. Ich habe zwar
nicht viel Zeit, aber ich muß Dir doch eben für Deinen lieben Brief
danken. Das hat mir furchtbaren Spaß gemacht, daß Du mit den Bildern was
nettes anzufangen weisst und Freude daran hast. Nächster Tag, wenn ich
mal Zeit habe, ich weiß’ noch nicht genau wann, komme ich mal zu Dir
rauf. Lebewohl! Und grüsse mir auch Bubi und Anni!
.
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.
.
[entry from 23.XI. continued…]
freuen. Ob sie das wohl tut? Om du säger henne det, visst. [schwedisch
für “Wenn Du ihr das sagst, gewiß. Anmerkung von Transkriptor]
Donnerstag Mittwoch abend, 23. XI.
Nun bin ich so oft zu Dir gekommen und habe Dir viel erzählt von dem, was
mir Freude macht. Jetzt ist mir aber gar nicht recht freudig zu Mute. Und
doch komme ich zu Dir. Oder vielmehr gerade deshalb. Ich Du sollst mir
jetzt was erzählen, wie David, der vor Saul spielen mußte, wenn einen
“der böse Geist plagt”. Oder richtiger wie Frau Musika vor Gösta,
denn von dem, was Du mir jetzt erzählst, hört mein Ohr ja gerade so viel,
wie Gösta von der Beethoven-Sonate des alten Kavaliers. Es ist zu dumm,
daß auch heute gerade weder Friedrich hier ist, noch ich ein Konzert oder
so etwas habe, um mich zu zerstreuen. Oder vielleicht ist es auch gut,
daß man sich nicht künstlich zerstreut, sondern sich mit sich selbst
allein ab[…?]. Nun habe ich mir überlegt, worauf ich mich also freue
für die Zukunft. Morgen früh mach ich Experimente im psychologischen
Laboratorium, woran ich große Freude habe. Morgen Abend haben wir dann
den Herder-Leseabend. Übermorgen früh die 1. schwedische Stunde, abends
sind wir bei einer Mainbergerin eingeladen, die mit Frau Kettels befreundet
ist. Sonntag Skilaufen, oder wenn kein Schnee ist, spazierengehen mit
Friedrich und Ff. Und so geht das weiter. Nächste Woche ein Konzert, wo
unser bester Cellist herkommt. Und dann der Dezember mit Schnee und
Skilaufen. Und die Weihnachtsferien, wo ich nach Hause fahre. Und dann
wieder hier den schönen Winter mit Arbeit und Genuß. Und dann schon alle
möglichen Pläne für nächsten Frühling und Sommer. Bin ich so ein
undankbares Gemüt? All die schönen Vorfreuden helfen mir nichts. Als
ich noch ein ganz kleiner Junge war und mich in den Finger geschnitten
hatte, erzählte mir einer, daß ein Soldat noch nicht einmal schreie, wenn
ich ihm die Nase abgehauen würde (das schien mir nämlich am
Schrecklichsten). Das imponierte mir sehr, so daß ich meine Schmerzlein
vergaß. Ebenso geht es mir jetzt mit meinem Kümmerlein, wenn ich mir
vorstelle, daß es auch wirkliches Leid gibt, daß einem geschehen kann.
Daß Du z.B. Deinen Großvater verlieren mußtest. Ich glaube, ich kann
das ein wenig nachempfinden. Wenn ich auch meine Großväter fast gar
nicht mehr gekannt habe, so war es doch etwas Ähnliches, als im vorigen
Jahr der beste Freund meines Vaters starb, ein einfacher Volksschullehrer,
bei dem wir auch zuerst in die Schule gegangen sind, aber ein Mann von
reinem Gold. Daß ich jetzt gerade an das Unglück denke, das Dir gerade
geschehen ist, mußt Du mir nicht verdenken. Das hilft mir über den
Graben hinweg zu springen, der mir jetzt gerade vor die Füsse kommt. –
Ich will jetzt etwas von Lagerlöff lesen, was ich mir neulich gekauft
habe. Es hat Wenn die Lagerlöff erzählt das übt immer so eine
wunderbare Wirkung auf mich aus. –
11 Uhr.
Soeben habe ich meinen Zimmernachbarn zum ersten Mal besucht. Ich wollte
ihn eigentlich nur fragen, ob es ihn stören würde, wenn wir morgen den
Leseabend auf meinem Zimmer machten. Aber es ist so ein netter, junger
Student, da bin ich etwas bei ihm geblieben. Er mußte mir von Kiel
erzählen, wo er im Sommer war, vom Rudern und Segeln, und von seiner Reise
durch Schweden. Jetzt wo ich wiederkomme, ist meine Lampe ausgebrannt, so
schreibe ich bei Kerzenschein. Vorher habe ich nämlich noch “das
Mädchen vom Moorhof” gelesen. Das hat mich ganz gewaltig gepackt. Da
vergisst man wahrhaftig seine Kleinigkeiten. Nun denke ich noch einen
fre[?…]liche gute Nacht – Gruß and Dich und gehe getrost zu Bett.
Man ist doch noch ein gutes Stück Kind; warum “man”? Ich.
Zum Glück. Zum Glück.
Dienstag, den 28.XI.
Man hat mir schon manchmal Schreibfaulheit vorgeworfen. Na, darüber
kannst Du Dich nun wirklich nicht beklagen. Ich hätte auch noch so viel
Dir zu erzählen, z.B. von einem furchtbar netten Menschen, einem jungen
Studenten, der sich in einem Dorf in der Nähe eine alte Hütte wohnlich
eingerichtet hat, wo wir ihn im Sonntag mit Ff besucht haben. Oder von
meinen Studien, wo ich aber nicht genau weiß, ob Dich das nicht langweilt.
Und noch viele andere Dinge. Aber dieser Bandwurm, der immer mehr in die
Länge wächst, flöst mir selbst allmählich Grauen ein. Darum will ich
jetzt Abschied nehmen. Mit den allerherzlichsten Glückwünschen für das
Neue Jahr, in das Du jetzt hinein rennen willst, als ob Du durch die
“Hölle” in den unteren Hof liefest. Noch siehst Du erst ein kleines
Stückchen durch den Torbogen schimmern und weißt noch nicht, was Du da
alles sehen und erleben wirst. Einen recht erfolgreichen Abschluß Deiner
Universitätsstudien; das wünsche ich Dir. Aber das ist ja nur
äusserlich. Das andere kann man nicht so sagen, aber doch empfinden und
wünschen. Man muß noch manchmal durch einen dunklen Gewölbegang. Und
wenn man durch ist, steht man vielleicht im hellsten Sonnenglanz. Das muß
man immer hoffen. Ich glaube, wir beide kommen sind beide so, daß wir
nicht leicht in eine Lage kommen, wo wir diese Hoffnung verlieren. Das ist
eine schöne Gabe. Die mußt Du recht behalten. Das ist mein spezieller
Geburtstagswunsch. Nun lebe wohl, auf Wiedersehen. Hej! Dein Rudi
Carnap.
Freiburg i. B. Zähringerstr. 50.
eingeschriebener Brief
28. XI. 11.
T>
Villa Lykan. Uppsala. Den 14. Dezember 1911.
Lieber Rudi!
Du hast mir mit Deinem Brief viel Freude gemacht und ich danke Dir herzlich
dafür. Es ist so nett zu wissen, was Du alles tust und treibst und ich
hoffe, Du willst mir bald wieder schreiben. Und dann erzähle auch von
Deiner Arbeit, die interessiert mich doch gerade besonders. Ich bin doch
ein Blaustrumpf wenn man es mir auch in Mainberg nicht ansah, aber mein
Großvater hat mirs oft genug gesagt. Was machst Du für Experimente im
psychologischen Laboratorium, habt Ihr auch Menschen als Versuchskanickel?
Mein Vormund, nein, er ist es ja jetzt nicht mehr, na ja, ich bin so stolz,
mündig zu sein, daß ich es bei jeder Gelegenheit erwähne, -- er
experimentiert viel mit einem Mann, ein gewöhnlicher Arbeiter, den er in
hypnotischen Schlaf versetzen kann und dann die merkwürdigsten Sachen mit
ihm macht. — Wie fein Ihr es in Eurer Freischar habt! Ich kriege
ordentlich Lust mitzumachen wenn Du so von Euren Wanderungen und
Leseabenden erzählst. Der Herr Frank ist doch hoffentlich jetzt wieder
gesund? Weisst Du, Mama hat mir zu meinem Geburtstag alle Bücher von
Selma Lagerlöff gegeben, und ich gewinne sie täglich lieber. Sonst habe
ich wahrhaftig keine lebhafte Fantasie, aber bei ihr finde ich es fein.
Und ihr Schwedisch ist so klar und einfach, aber dabei auch so vornehm.
Hör mal, sobald wie nur möglich mußt Du Deine schwedische Lehrerin
bitten, es lesen zu dürfen, es ist zwar nicht leicht, aber es lohnt sich,
sich ein bisschen Mühe damit zu geben. Die deutsche Übersetzungen sind
ja ganz gut, aber das Original ist doch was anderes. Wie geht es übrigens
mit Deinen schwedischen Studien, ist Deine Lehrerin nett und machst Du
große Fortschritte? Weißt Du, wenn ich nach Hause komme werde ich
wahrscheinlich einer Französin schwedische Stunden geben, und statt dessen
wird sie mir Französischunterricht geben. Das kann ich gut gebrauchen zu
meinem Examen und da sie in der Villa nebenan wohnt, können wir uns leicht
treffen. Ich bin ein bisschen nervös, wenn ich daran denke, aber
schließlich – so schlimm [unleserlich] ja nicht. Anfangs werden wir
wohl Folkskolans Läsebok und solche leichte Bücher lesen. Wenn es soweit
ist, werde ich Dir schreiben und gute Ratschläge von Dir holen, nicht?
—
Den 18. Dez. [Helsingfors]
Jawohl, so weit kam ich in Upsala, dann mußten wir packen und das ganze
Haus stand auf dem Kopf. Unmöglich seine Gedanken so viel zu sammeln um
etwas Vernünftiges zu schreiben. Jetzt gehts etwas besser, obwohl das
Zimmer nebenan voll von plaudernden Verwandten steckt.
Ich wollte Dir eigentlich noch etwas von meinem Geburtstag erzählen,
der war so fein. Dabei fällt mir ein, daß ich Dir noch gar nicht für
das nette Buch gedankt habe. Es gefällt mir so gut, ich habe solche
“altmodischen” Bücher ganz besonders gerne. Ich habe mich so gefreut
als das Paket früh morgens an meinem Geburtstag ankam. Es waren so viele
Briefe, die gerade dann ankamen, und ich stürzte mich auch so eifrig raus,
daß der Briefträger, sonst steif und unnahbar wie eine Sphinx, mich von
der Seite anlachte.
Den 10. Januar. 745 morgens. [Helsingfors]
Nein, es ist gerade zu unmöglich hier Briefe zu schreiben. Jeden Tag sind
wir auf 2-3 verschiedenen Stellen eingeladen. Jetzt ist es noch sehr früh
denn wir sind vor 7 Uhr wieder aus Petersburg zurückgekommen. Da habe ich
Deine Karte bekommen und schreibe jetzt rasch so viel ich kann um mein
Gewissen zu beruhigen, es hat schon wochenlang auf mich geschimpft. Ob Du
wohl etwas böse bist? Es würde mir leid tun.
Weihnachten war fein. Erst waren wir zur Vesper in der deutschen
Kirche nachmittags, da ist es immer sehr feierlich. Voriges Mal, vor 7
Jahren, sangen wir mit im Chor, diesmal hörten wir bloß zu. Der Pfarrer
ist ein Mainberger und sprach ganz gut. Nach dem Mittagessen war dann die
Bescherung. Wir machens immer nach schwedischer Art, jedes Geschenk in
Papier eingewickelt und mit Lack versiegelt, wenn möglich auch noch ein
Verslein drauf. Meine kleinen Geschwister sind furchtbar tüchtig im Verse
fabrizieren aber ich bin sehr dumm. Das Verteilen der Geschenke dauert
über 2 Stunden und das finde ich viel netter als die deutsche Bescherung.
Ich habe überhaupt alles gekriegt, was ich mir gewünscht habe, und nach
massenhaft anderes dazu. Diese Füllfeder z.B. ist großartig. Und
Bücher habe ich bekommen, 10 Stück, und einige kriege ich noch in
Uppsala. Mein Bruder hat eine “Zupfgeige” bekommen, er ist noch nicht
sehr geschickt aber es ist doch ganz nett ihn zu hören. Spielt Ihr viel
auf Euren Geigen?
Wie gesagt, wir bummeln hier ganz entsetzlich. Aber es ist so
furchtbar nett, zu bummeln. Ich hatte keine Ahnung, ehe ich hierher kam,
daß wir soviele Verwandte hatten. Es wimmelt nur so. Alle haben sie uns
zu Mittagessen, Kaffeen und Abendbrot eingeladen. Nur merkwürdig, daß
wir noch gesund sind nach all dem Weihnachtsschmaus. Im Theater waren wir
auch mal, im finnischen, und sahen den Sommernachtstraum. Sehr viel
verstanden wir nicht, aber doch etwas. Schlimmer war es in Petersburg, Du
hättest bloß unsere dummen Gesichter sehen sollen, wenn jemand uns
russisch anredete. Der Kerl, der uns die Sühne [?] Kirche zeigte bestand
darauf, daß ich ihn verstand, weil ich begriff, was Ruskins Marmor und
Mosaik war. Wir kamen gerade am Weihnachtstag zur Isaks-Kirche und hörten
den Gottesdienst. Es waren sicher 8000 Menschen da und 15 Priester und ich
weiß nicht wie viele Chorknaben, die sangen wundervoll. Es war sehr
feierlich, als alle die Menschen dann knieten und sich kreuzigten. Der Dom
soll 22 Millio. Rubel gekostet haben, aber so sieht er auch darnach aus.
Im Ballett waren wir auch und sahen das Dornröschen. So was feines
wie die russische Oper und das Ballett besonders gibt es nirgends sonst
glaube ich. Die ganz große Oper war gepackt voll und besonders viele
Kinder waren da, die lachten hell auf als im letzten Akt das Rotkäppchen
und der Wolf und Ritter Blaubart und der Kater und das weise Kätzchen und
nach viele andere da tanzten. So gut wie das ganze Ballettcorps, und das
ist wahrhaftig nicht klein, hat mitgespielt.
Mein Wunsch, dies Jahr zwei Weihnachten feiern zu dürfen, ging in
Erfüllung. Meine Vettern und Kusinen haben uns sehr verwöhnt. Jeden
Tag, bei -24oC sind wir in der Stadt rumgelaufen und haben alles Schöne
gesehen, was es da gab. Einmal gingen wir zu Fuß über die Neva, haben
ganz elend gefroren obwohl es nicht mal wehte und freuten uns, im Isaks-Dom
wieder warm werden zu können. Ich fahre sicher wieder nach Russland, ich
denke es ist da ebenso interessant wie im Orient, nur tüchtig kalt. Eine
Viertelstunde brauchten wir mindestens um uns jedes Mal anzuziehen.
Jetzt weisst Du etwas davon, was ich vorgehabt habe. Sonnabend sind
wir wieder zu Hause und dann werde ich arbeiten aber tüchtig. Schreibe
bald wieder und erzähle was Du tust. God fortsetzing [sic] på ditt nya
året!
Tilly [?]